Sonderbeilage „70 Jahre Börsen-Zeitung – Partner des Finanzplatzes Düsseldorf“ vom 17.02.2022

1952 als Vorbild nehmen: Wir müssen bauen, bauen, bauen

Markus Krebber

Lange Genehmigungszeiten sind größtes Hindernis für eine nachhaltige Energieversorgung - Lösungen für grüne Versorgungssicherheit dringend nötig

Wie kann der ungeheure Stromhunger der Bundesrepublik gestillt werden? Wie kann das Land im Herzen Europas der wachsenden Nachfrage der Industrie ebenso gerecht werden wie dem steigenden Bedarf der privaten Haushalte? Genauso wichtig die Frage: Wie lässt sich das Hochspannungsnetz so erweitern, dass es den anstehenden massiven Ausbau der Stromerzeugungskapazitäten bewältigt? Die Antwort lautet: bauen, bauen, bauen…

Klingen diese Fragen vertraut? Sie stammen nicht etwa aus einem Artikel der Börsen-Zeitung des Jahres 2022. Vielmehr lauteten so die Schlagzeilen deutscher Tageszeitungen im Jahre 1952, dem Geburtsjahr der Börsen-Zeitung. Die Fragen waren also vergleichbar – die Antworten fallen heute natürlich anders aus als vor 70 Jahren. So wurden 1952 viele Vorschaltanlagen zu vorhandenen Kohlekraftwerken hinzugebaut, um schnell auf die wachsende Nachfrage der Nachkriegsjahre reagieren zu können. Parallel wurden neue Kohlekraftwerke errichtet, die bereits Mitte der 50er Jahre ans Netz genommen werden konnten. Das lässt mit Blick aufs Hier und Jetzt aufhorchen. Denn die langen Genehmigungszeiten sind heute das größte Hindernis für eine nachhaltige Energieversorgung. Bei der Bewilligung neuer Windparks, Solaranlagen, Gaskraftwerke wie auch beim Bau der erforderlichen Stromtrassen muss zwei Gänge hochgeschaltet werden, um die Ziele der Klimaneutralität in den nächsten 24 Jahren zu erreichen. Mit anderen Worten: Wir müssen bauen, bauen, bauen….

In den 50er Jahren wurde das deutsche Wirtschaftswunder begründet. Ein entscheidender Schlüssel damals: das Umsetzungstempo. In nur drei Jahren einen Windpark zu realisieren – das würde auch heute für alle Beteiligten den dringend benötigten Schub bedeuten, um gewaltigen Ambitionen gewaltige Taten folgen zu lassen. Die sind notwendig, um auf den 1,5-Grad-Pfad des Pariser Klimaabkommens zu kommen, zu dem sich die Weltgemeinschaft verpflichtet hat und was zuletzt in Glasgow anlässlich der COP 26 noch einmal bekräftigt wurde.

Am Willen mangelt es nicht

Die 2020er Jahre sind damit die Schlüsseldekade auf dem Weg zur Klimaneutralität. Es gibt eine Reihe von Indikatoren, die zeigen, dass es am Willen längst nicht mehr mangelt: Da ist die große Veränderungsbereitschaft in den Unternehmen, die die Chancen der Transformation erkannt haben. Da ist aber auch der Antrieb durch Fridays for Future, auch wenn ihnen alles nicht schnell genug gehen kann. Begeisterung, Aufbruchstimmung und ein gesamtgesellschaftlicher Willen – das sind die Zutaten, um gemeinsam die Aufgabe anzugehen. Aber dabei bedarf es auch des Muts, vorhandene Konflikte zu lösen. Und der Kraft, das Allgemeinwohl wieder über die Interessen Einzelner zu stellen.

Zukunftsinvestitionen, von denen die Gemeinschaft als Ganzes profitiert, müssen wieder Vorfahrt bekommen. So wie von 1952 bis 1960, als die Investitionen in Deutschland um 120 Prozent stiegen. Allein die Fahrzeugindustrie verfünffachte ihre Produktion in nur 10 Jahren. Auch sie profitierte von den hervorragenden Rahmenbedingungen. Diese Steigerungsraten sind heute wünschenswert für den Ausbau der Erneuerbaren Energien und den Aufbau der Wasserstoffwirtschaft. Dabei hapert es nicht an den nötigen Finanzmitteln. Allein RWE will in den kommenden Jahren bis zu 15 Milliarden Euro brutto in Deutschland aufwenden, um nur ein Beispiel zu nennen. Viele andere Unternehmen stehen vor ihrem nächsten großen Investitionszyklus. Aber so wie damals müssen auch heute die Rahmenbedingungen passen. Ist das nicht der Fall, werden die Investitionen anderorts getätigt, mit der Konsequenz, dass Produktion abwandert und Arbeitsplätze verlorengehen. Einer solchen schleichenden Deindustrialisierung gilt es mit Pragmatismus und Tempo zu begegnen.

Die Zielmarke ist gesetzt

Die Zielmarke für die kommende Dekade ist dabei gesetzt: CO2-Emissionen um 65% senken bis 2030. Der Schlüssel hierfür ist der massive Zubau von Windkraft- und Solaranlagen; benötigt wird mehr als eine Verdopplung. Um das in Zahlen zu übersetzen: Die Jahresproduktion aus Erneuerbaren Energien von aktuell rund 240 Terawattstunden muss auf 550 Terawattstunden steigen – je nach Szenario sogar mehr. Wir müssen also wieder bauen, bauen, bauen...

Mit dem Umstieg auf immer mehr volatilen Wind- und Sonnenstrom wächst der Bedarf an Speichern und gesicherter Leistung. Vereinfacht gesagt: Es braucht dringend Lösungen für eine grüne Versorgungssicherheit. Batterien sind ein Teil der Lösung, aber eben nur ein Teil, weil sie die Stromversorgung lediglich für kurze Phasen stabil halten können. Für längere Zeiträume sind Backup-Kapazitäten nötig, die immer dann abrufbar sind, wenn anderweitig kein Strom verfügbar ist. Der zeitgleiche Kohle- und Kernenergieausstieg macht es erforderlich, moderne Gasanlagen mit einer Kapazität von deutlich über 20 Gigawatt zuzubauen; viele davon schon bis 2030. Denn auch in unseren Nachbarländern Belgien und den Niederlanden gehen in den nächsten Jahren mehr als 6.000 Megawatt gesicherte Leistung vom Netz.

Bis ausreichend grüner Brennstoff zur Verfügung steht, sind sie mit Erdgas zu betreiben. Durch eine Diversifizierung der Erdgasversorgung sollte verhindert werden, in zu große Abhängigkeit von einzelnen Lieferanten zu geraten. Dazu können eigene LNG-Terminals beitragen. Deutschland als stärkste Volkswirtschaft Europas sollte deshalb endlich einen Direktanschluss für Flüssiggas schaffen, schon als Versicherung für schwierige Zeiten.

Der Umbau zu einer dekarbonisierten Energieversorgung erfordert also Eingriffe in viele Bereiche der bestehenden Infrastruktur. Die Mittel dazu – finanziell und technologisch - sind vorhanden. Die generelle Bereitschaft ebenso, weil in dem Umbau große Chancen stecken. Abschalten ist leicht. Doch beim Anschalten warten die Mühen der Ebenen – und die zu durchschreiten wird eine Kraftanstrengung, die nur gemeinsam von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft zu bewältigen ist. Dazu sind Pragmatismus bei politischen Entscheidungen und behördlichen Regulierungen unumgänglich und der Wille, auch bei Gegenwind standhaft zu bleiben. Nur so wird aus Wollen auch Machen, und zwar so, dass unsere Industrie wettbewerbsfähig bleibt. Sie ist Garant unseres Wohlstands.

Pragmatismus ist angesagt

Politik und Kapitalmärkte wollen heute auch durch verbindliche Vorgaben den Kurs hin zur Klimaneutralität bestimmen. Das ist nachvollziehbar. Pragmatismus sollte allerdings auch die Leitplanke sein, wenn es um so zentrale Themen geht wie die EU-Taxonomie oder die Regeln für grünen Wasserstoff. Da ist noch viel Platz nach oben. Bilderbuchregulierung scheint wichtiger als das Ermöglichen – erstaunlich, schließlich hat sich die EU überaus ambitionierte Klimaziele gesetzt. Ohne Zwischenschritte und Kompromisse sind die nicht erreichbar. Um das an einem Beispiel aus der Diskussion um die Grünstromkriterien zu verdeutlichen: Sie werden festlegen, welcher erneuerbare Strom für die Erzeugung von grünem Wasserstoff genutzt werden darf. So soll nach EU-Vorstellung nur Strom aus neuen, ungeförderten Windkraft- und Solaranlagen zugelassen werden. Praktisch bedeutet das, es werden Jahre vergehen, bis solche neuen Windkraft- und Solaranlagen ans Netz gehen. Auf dieser Basis stellt heute kein Stahlproduzent seinen Hochofen von Koks und keine Raffinerie von Gas auf grünen Wasserstoff um. Unternehmen brauchen Gewissheit, dass der grüne Energieträger verlässlich in ausreichenden Mengen verfügbar sein wird. Solche Vorschläge fördern nicht das Gesamtsystem – sie bringen es ins Stocken. Die Konsequenzen wären gravierend: Eine Verzögerung des Starts der Wasserstoff-Wirtschaft würde die Unsicherheit bei den Unternehmen vergrößern, jetzt anstehende Investitionen würden andernorts getätigt. Das kann und muss besser gelöst werden! Deutschland sollte hier seinem Führungsanspruch gerecht werden.

Es gibt also viel zu tun für Politik und Wirtschaft. Der Blick zurück beschreibt den Weg nach vorn: 1952 zeigte einen Zuwachs beim Stromaufkommen von „nur“ 8 %. Bis 1960 hatte sich die Stromnachfrage innerhalb eines Jahrzehnts verdoppelt. So kann es auch in den 2020er Jahren bei der Erzeugung von grünem Strom gerne weitergehen. Das wären dann gute Nachrichten nicht nur für RWE, sondern vor allem für die Energiewende – und sicher der Börsen-Zeitung eine Schlagzeile in ihrer Ausgabe zum 80. Geburtstag wert.

 

© Börsen-Zeitung

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