Mehr Zeit für den Klimaschutz

05.10.2025 - Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

RWE-Chef Markus Krebber und der Chemie-Gewerkschafter Michael Vassiliadis fordern eine Schonfrist für die Industrie. Ein Gastbeitrag.

Rund 11.000 Kilometer trennen die USA und China voneinander – aus dem Weg gehen können sie sich trotzdem nicht. Die geopolitischen Spannungen zwischen den beiden Großmächten verändern die Spielregeln der Globalisierung. An die Stelle von Freihandel und globaler Arbeitsteilung treten zunehmend Abschottung und Protektionismus. Die Auswirkungen treffen die exportorientierte deutsche Wirtschaft empfindlich.

Insbesondere die Industrie gerät dabei unter massiven Druck, da sie mit subventionierten ausländischen Wettbewerbern und steigenden Klimaschutzkosten zu kämpfen hat. Die Gefahr einer Abwanderung der Industrie ist real und hätte gravierende Folgen für den Wirtschaftsstandort. Deutschland droht der Verlust hoch qualifizierter Arbeitsplätze, die für Innovationskraft, Wohlstand und gesellschaftlichen Zusammenhalt unverzichtbar sind. Auch dem Klimaschutz wäre mit der Abwanderung der Industrie ein Bärendienst erwiesen, denn dann müssten die heute in Deutschland produzierten Güter aus Ländern importiert werden, deren Produktionsmethoden klimaschädlicher sind.

In dieser kritischen Phase braucht die Industrie eine entschlossene Antwort der Politik, die ihr Planungs- und Investitionssicherheit gibt. Insbesondere, weil vielerorts Investitionsentscheidungen anstehen. Damit diese Entscheidungen zugunsten des Wirtschaftsstandortes Deutschland getroffen werden, muss einerseits die Kosteneffizienz des Klimaschutzes auf den Prüfstand, und andererseits braucht es eine strukturelle Antwort, die für faire Wettbewerbsbedingungen sorgt und strategisch wichtige Wertschöpfungsketten sichert.

Eine Zeitungsseite mit dem Titel 'Frankfurter Sonntagszeitung' und einem Artikel über Klimaschutz und Industrie.

Für kosteneffizienten Klimaschutz spielen die CO2-Preise des europäischen Emissionshandels eine zentrale Rolle. Sie sorgen mit marktwirtschaftlichen Methoden dafür, dass Emissionen zuerst dort vermieden werden, wo es am günstigsten ist, während teure Maßnahmen zu einem späteren Zeitpunkt folgen. Damit dieser ökonomisch sinnvolle Grundsatz voll zum Tragen kommt, brauchen wir einen Paradigmenwechsel und mehr Zeit für den Klimaschutz in der Industrie; Anstatt die Industrie vor die Wahl zu stellen, entweder teure Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen oder abzuwandern, sollte ihre Dekarbonisierung erst später erfolgen, mit dann weiter entwickelten Technologien. Dafür spricht ein Blick auf die Vermeidungskosten, die in den verschiedenen Sektoren anfallen.

Während die CO2-Vermeidung in weiten Teilen der Industrie am teuersten ist, sieht es bei der Stromerzeugung sowie im Verkehrs- und Gebäudesektor anders aus. Hier ließen sich kurzfristige Kostenvorteile erzielen – insbesondere dann, wenn Strom zur CO2-Vermeidung genutzt wird und Ernst gemacht wird bei der sozialen Ausgestaltung der Wohngebäudesanierung. Um die Elektrifizierung dieser Sektoren zu beschleunigen, sollte die Politik Strom so weit wie möglich von Steuern und Abgaben entlasten.

Ein ökonomisch rationaler Klimaschutz vermeidet zudem alle Kosten, die ohne klimapolitische Wirkung bleiben. In einem CO2-Handelssystem braucht es keine weiteren dirigistischen Detailregelungen, zum Beispiel keine Vorgaben zur Umstellung von Gaskraftwerken von Erdgas auf Wasserstoff. Auch die EU-Vorgaben zu grünem und „Low-carbon“-Wasserstoff gehören abgeschafft. Dogmatische Einengungen auf wenige Technologien treiben Kosten und bremsen die Transformation aus. Eine Direktreduktionsanlage in der Stahlindustrie, betrieben mit Erdgas, ist schneller und günstiger zu haben als das Warten auf grünen Wasserstoff. Wo die Dekarbonisierung langfristig teuer und unwirtschaftlich bleibt, sollten Negativemissionen zur Kompensation zum Einsatz kommen. Im industriellen Maßstab eingesetzt, kann zum Beispiel die Abscheidung von CO2 aus der Umgebungsluft oder aus Biomasse einen wesentlichen Beitrag leisten und ist günstiger als die direkte Dekarbonisierung mancher Industrieprozesse. Auch hochwertige Klimaschutzprojekte außerhalb der EU sollten in beschränktem Umfang anrechenbar sein.

CO2-Preise sind zwar kosteneffizient, dürfen aber im Inland nicht zu einer zusätzlichen Belastung der Industrie werden, die im internationalen Wettbewerb steht. Die Industrie ist der einzige Sektor, der mobil ist und abwandern kann. Um das zu verhindern und den Unternehmen Investitionssicherheit zu geben, ist eine strukturelle Antwort entscheidend. Die Politik legt mit der Senkung der Stromsteuer für das produzierende Gewerbe einen ersten Baustein zur Entlastung. Weitere müssen folgen, zum Beispiel mit der langfristigen Verstetigung der Entlastungen der energieintensiven Industrie über Netzentgeltabsenkung und Strompreiskompensation. Auch eine Ausweitung auf weitere Branchen ist notwendig. Für Energieträger wie Gas und Öl ist die Fortsetzung der kostenlosen Zuteilung von CO2-Zertifikaten der derzeit einzige wirksame Weg, die Wettbewerbsfähigkeit der energieintensiven Industrie zu erhalten. Nur so lassen sich integrierte Wertschöpfungsketten und hoch qualifizierte Industriearbeitsplätze bewahren. Dem auf europäischer Ebene angedachten Carbon-Border-Adjustment-Mechanismus wird das nicht gelingen, denn er ist löchrig, fehleranfällig und keine Lösung für Exporte.

Die 2022 ausgerufene Zeitenwende markiert auch eine Zäsur für unsere Wirtschaftsordnung. Unabhängigkeit kostet Geld, aber Abhängigkeit noch sehr viel mehr. Deshalb müssen in Deutschland und Europa Lieferketten für Zukunfts- und Schlüsseltechnologien erhalten und aufgebaut werden. Wir haben nichts gewonnen, wenn wir beispielsweise in der Stromerzeugung Abhängigkeiten beim Import fossiler Energieträger eintauschen gegen Abhängigkeiten beim Import wichtiger Technologien, wie Batteriespeicher oder erneuerbare Energien. Eine heimische Produktion sichert Wertschöpfung, die Anwendung unserer Arbeits- und Sicherheitsstandards und verhindert eine Verlagerung von CO2-Emissionen ins Ausland. Wenn uns das gelingt, dann bleibt die Zeitenwende nicht länger eine Zustandsbeschreibung, sondern wird zu einem konkreten Auftrag für die Zukunft.

 

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