Herr Krebber, vor einem Jahr war die Sorge groß, dass Deutschland im Winter die Energie ausgehen könnte. Heute ist das kaum noch ein Thema. Nehmen wir die Sache zu leicht?
Deutschland steht definitiv besser da als vor einem Jahr, die Gasspeicher sind randvoll, wir haben Flüssiggas-Importinfrastruktur aufgebaut. Aber wir sind noch nicht so weit, dass wir uns vollständig sicher fühlen können.
Wo sehen Sie weiterhin Risiken?
Das Gas aus den Speichern allein reicht nicht. Um durch den Winter zu kommen, braucht es auch konstante weitere Lieferungen. Bei einem normalen Winter sollte es keine Probleme geben. Da es aber keine Reserven im System gibt, kann es bei extrem kaltem Winter oder einem Ausfall einzelner Lieferanten weiter zu kritischen Situationen kommen. Die Energieversorgung Deutschlands ist auf Kante genäht.
Sollten wir sicherheitshalber den Strickpulli anziehen und die Heizung runterdrehen?
Es ist immer gut, dort, wo das möglich ist, zu sparen. Allein deshalb, weil man dann Geld spart. Aber wir brauchen, glaube ich, keine einschneidenden Maßnahmen, um durch den Winter zu kommen. Es wird voraussichtlich allenfalls bei einem extrem kalten Winter an einzelnen Tagen und in einzelnen Regionen mal knapp werden.
Wie gefährlich wäre eine Unterbrechung der Pipeline-Gaslieferungen aus Norwegen?
Die norwegischen Gaslieferungen sind für ganz Europa sehr wichtig.
Und was, wenn es zu Unterbrechungen kommt?
Das ist rein hypothetisch, das sollten wir uns nicht ausmalen. Die Frage ist ja auch, wie lange die Unterbrechung wäre. Darüber will ich nicht spekulieren.
Bei einem Sabotageakt wie im Fall der Nord-Stream-Pipeline und womöglich auch bei der finnischen Pipeline Balticconnector wären längerfristige Ausfälle zu befürchten. Was dann?
Dann hätten wir andere Gasmärkte als heute.
Also viel höhere Preise?
Ja, dann hätten wir wieder viel höhere Gaspreise und wahrscheinlich auch Knappheitsprobleme in der Versorgung. Deshalb ist es ja so wichtig, ein Energieversorgungssystem nie auf Kante zu nähen. Es muss immer Reserven geben, damit einzelne Ausfälle verkraftbar sind. Und da ist Deutschland noch nicht.
Wir importieren Fracking-Erdgas aus den USA, auch über RWE-Hafenterminals. Sollten wir dann nicht auch Fracking-Förderung in Deutschland zulassen?
RWE fördert kein Gas und wird dies auch nicht tun. Energiepolitisch betrachtet, stellt sich die Frage, ob sich dieser Aufwand lohnen würde. Deutschland und Europa sind ja, was die hohe Bevölkerungsdichte angeht, mit den Neuenglandstaaten an der US-Ostküste vergleichbar. Dort gibt es auch kein Fracking, das findet in den USA in deutlich dünner besiedelten Gebieten wie etwa Texas statt. Ich glaube nicht, dass diese Fracking-Debatte für Deutschland zielführend ist.
Woher wird in Deutschland der Strom kommen, wenn in Zukunft die Versorgung großteils auf Wind- und Sonnenkraftwerken basiert, aber diese wetterbedingt mal nicht genug liefern?
Es gibt dann im Wesentlichen drei Quellen. Für kurze Phasen mit zu wenig grünem Strom werden Batterien und Speicher eine wichtige Rolle spielen, in die wird ja auch immer mehr investiert. Vor allem für den Winter benötigen wir außerdem wasserstofffähige Gaskraftwerke. Wichtig ist auch eine weitere Integration der europäischen Strommärkte. Solar- und Windstromerzeugung gleichen sich ja europaweit teilweise aus.
Also alles im Griff?
Beim jetzigen Strommix mache ich mir keine Sorgen um eine stabile Versorgung, weil Kohlekraftwerke noch laufen. Aber die wollen wir bekanntlich bald abschalten. Deshalb müssen jetzt dringend als Ersatz neue wasserstofffähige Gaskraftwerke gebaut werden. Sonst können wir die Kohlekraftwerke nicht abschalten. Um den Ausbau der Erneuerbaren mache ich mir dagegen weniger Sorgen, da sehen wir inzwischen viel Dynamik.
Ist es nicht heuchlerisch, die eigenen Atomkraftwerke abzuschalten und dann im Notfall französischen Atomstrom zu importieren?
Dafür bin ich der falsche Adressat. Das ist eine politische Frage, die 2011 mit dem Beschluss zum Atomausstieg beantwortet wurde, der damals übrigens von der Bevölkerung überwiegend unterstützt wurde. Was jedoch seither schiefgegangen ist: Man hätte direkt nach dem Atomausstiegsbeschluss die Schaffung von Ersatzkapazitäten angehen müssen, also den Ausbau der Erneuerbaren massiv beschleunigen. Das wurde lange versäumt und erst durch die jetzige Ampelregierung korrigiert. Die richtigen Rahmenbedingungen für den Bau wasserstofffähiger Gaskraftwerke haben wir leider bis heute nicht. Den Bau dieser Anlagen kann man bis 2030 noch hinbekommen, aber Deutschland ist hier im Verzug.
Die RWE-Atomkraftwerke aber sind und bleiben vom Netz?
Unser Auftrag, wie er uns vom Atomausstiegsgesetz vorgegeben ist, ist der Rückbau der Anlagen. Da werden jeden Tag Rohre durchgesägt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es hier noch mal eine andere politische Entscheidung gibt.
Gebietet nicht der gesunde Menschenverstand, dass man in einer Situation wie heute, in der die Energieversorgung, wie Sie selbst sagen, auf Kante genäht ist, aufhören sollte, Rohre durchzusägen?
Das war eine politische Entscheidung.
Klar, aber was ist Ihre Meinung dazu?
Das Thema Atomkraft ist politisch derartig aufgeladen, dass es kaum noch im Konsens zu lösen ist. Selbst wenn man jetzt eine andere Entscheidung treffen würde, müssten wir mit jahrelangen Klagen rechnen. Es gibt keine geltende Betriebsgenehmigung mehr. Der ganze Aufwand, den man betreiben müsste, um 3,9 Gigawatt an Stromerzeugungskapazität zurückzuholen, steht nicht im Verhältnis. Das dafür notwendige politische Kapital würde ich besser einsetzen: für den Ausbau der Erneuerbaren, der Netze und der Back-up-Kapazitäten. Wenn es um 10 bis 15 Gigawatt Atomstrom ginge, die wir reaktivieren könnten, wäre die Einschätzung eine andere. Aber so ist es ja nicht.
Sind wir bei Solarzellen, Windrädern, Batterien und anderen Schlüsseltechnologien der Energiewende zu abhängig von Herstellern aus China?
Wenn die Ziele der Energiewende in der westlichen Welt erreicht werden sollen, dann werden wir dafür so viel Ausrüstung benötigen, dass die Herstellungskapazitäten einzelner Lieferländer nicht ausreichen. Schon deshalb braucht Europa mehr Fabriken für Windräder und Solaranlagen. Zweitens haben wir bei Corona und Handelskonflikten erlebt, dass Lieferketten zusammenbrechen können, deshalb muss die Produktion diversifiziert werden. Und drittens ist die Akzeptanz für den Bau von Großanlagen für die Energiewende größer, wenn die Leute sehen, dass dadurch gute Jobs im eigenen Land entstehen.
Sie plädieren also für eine staatliche Förderung der europäischen Wind- und Solarindustrie?
Ja, der Staat kann etwa bei der Ausschreibung von Flächen für den Bau von Meereswindparks Mindestanforderungen an die Interessenten stellen, was lokale Wertschöpfung betrifft. Dass zum Beispiel die installierten Windräder zu einem bestimmten Teil in Europa hergestellt werden. Das hielte ich für sinnvoll. Gleichzeitig darf dadurch der Ausbau nicht gebremst werden. Aber richtig: Wenn wir zusätzliche Kapazitäten in der Wind- und Solarindustrie benötigen, dann sollten die in Europa entstehen.
Die Bundesregierung hat sich diese Woche nach langem Streit auf ein Strompreis-Entlastungspaket für Unternehmen geeinigt. Wie beurteilen Sie dieses?
Es ist gut, dass die Bundesregierung für Entlastung sorgt. Die hohen Energiepreise sind für viele Unternehmen eine echte Herausforderung. Die Entlastung hilft für die nächsten Jahre, der Ursache der hohen Energiepreise lässt sich aber nur durch ein maximales Ausbautempo bei den erneuerbaren Energien und den Back-up-Kapazitäten begegnen. Denn die temporäre Steuersenkung erhöht ja nicht das Stromangebot.
Die Stromsteuer wird gesenkt, aber die macht bereits bislang bei Industriekunden nur rund 6 Prozent des Strompreises aus, Großverbraucher sind ohnehin schon großteils befreit davon. Fällt das überhaupt groß ins Gewicht?
Das Entlastungspaket geht ja über die Senkung der Steuer hinaus. Es ist richtig, zudem schnell und pragmatisch umsetzbar. Gerade für die energieintensive Industrie, die im internationalen Wettbewerb steht, ist die Entscheidung der Regierung daher eine gute Nachricht.
Reicht dieses Paket aus, um eine befürchtete Flucht von Chemiefabriken, Stahlhütten und anderen energieintensiven Betrieben ins Ausland zu verhindern?
Das entscheidet sich an der Attraktivität des Industriestandorts Deutschland insgesamt. Und da sind noch viele Aufgaben zu erledigen. Letztendlich braucht es einen Abwägungsprozess der Politik, welche Arten von energieintensiven Industrien sie hier halten will, um zum Beispiel eine zu hohe Abhängigkeit vom Ausland zu vermeiden und integrierte Wertschöpfungsketten zu erhalten. Solchen grundlegenden industriepolitischen Fragen können wir in Deutschland nicht aus dem Wege gehen.
Und was passiert, wenn wir in ein paar Jahren feststellen, dass der Strompreis in Deutschland immer noch deutlich höher ist als in anderen Ländern? Bekommen wir dann eine dauerhafte Subventionswirtschaft?
Das kann nicht das Ziel sein. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass andere Weltregionen Standortvorteile durch günstigere Energie haben und deshalb bei manchen Arten energieintensiver Industrieproduktion im Vorteil sind. Diese Vorteile werden auch in Zukunft nicht verschwinden, Deutschland kann das nicht auf Dauer durch Subventionen wettmachen. Wir werden einen Wandel unserer Industriestruktur sehen.
Das Gespräch führte Marcus Theurer.